Text von Uwe Anhäuser, Hunsrück und Naheland, DuMont-Kunst-Reiseführer, 1987



Dem 1309 als ›Rinbulle‹ (Rheinhügel) erstmals erwähnten Städtchen Rheinböllen merkt man auf den ersten Blick kaum an, dass dieser einstige Hauptort des ›Alten Gerichts‹ unter den Pfalzgrafen und insbesondere auch zur Zeit Balduins von Trier eine wichtige Rolle gespielt hat. An mittelalterlicher Bausubstanz ist nichts Nennens- oder gar Sehenswertes übriggeblieben, dafür aber um so interessantere Architekturen des 19. Jahrhunderts.

Das älteste Gebäude von Rang ist in Rheinböllen die evangelische Pfarrkirche, deren Turm noch den gemauerten Kern des bereits 1332 genannten Gotteshauses enthält. Im Inneren erkennt man verschiedene Reste aus älterer Zeit (so. z. B. zehn Säulen von 1845/46 unter der Empore), doch gehört das am 16. März 1945 durch Artilleriefeuer bis auf die Mauern vernichtete Gebäude im wesentlichen einem 1948/49 erfolgten Wiederaufbau an. Bemerkenswert ist der auf dem alten Kirchhof errichtete Pyramidenstumpf mit der altgriechisch gewandeten Relieffigur einer Trauernden. Hierbei handelt es sich um einen Gedenkstein für Carl Puricelli (gest. 1805), Mitglied der für die Region bedeutenden Hüttenherren-Dynastie.

Rheinböllens katholische Kirche ist dem hl. Erasmus geweiht und ruht als dreischiffiger Hallenbau der Neugotik (1870-72) wohl auch auf den Fundamenten eines erheblich älteren Vorgängerbaus. Das unverputzte Ziegelmauerwerk birgt eine gleichfalls neugotische Ausstattung, worunter die mit figürlichen Motiven gestalteten Glasfenster (1895-98) und die ursprünglich in der Stummschen Werkstatt gefertigte Orgel von 1860 Beachtung verdienen.

Im Zentrum des Städtchens bringen sich das hübsche Ensemble der Gebäude um das Rathaus (1873) und insbesondere auch das ansehnliche ehemalige evangelische Pfarrhaus (1730-33; Bacharacherstr. 8) vorteilhaft zur Geltung. Am letzteren erinnert eine Tafel: »Blücher, Gneisenau und Prinz Wilhelm rasteten hier am 1. Januar 1814.« Der greise Feldmarschall Blücher, mit seiner schlesischen Armee seit der Völkerschlacht bei Leipzig siegreich dem zurückweichenden Napoleon auf den Fersen, hatte seinen Rheinübergang in der Neujahrsnacht freilich vordatiert. Weil beim Brückenschlag Probleme aufgetreten waren, hatte er zunächst noch in Kaub zurückbleiben müssen, kam erst am 2. Januar nach Rheinböllen und stieß dann aber so vehement weiter vor, dass er bereits am folgenden Tag im Kreuznacher Quartier notieren konnte: »Bis hir bin ich gekomen, erger habe ich genug gehabt weill die brücke so ich bei Caub Schlagen liß zum teuffell gink wo durch ich einen gantzen Tag uff gehallten wurde.«

Jedenfalls war Rheinböllen der erste größere linksrheinische Ort, der von Blüchers Befreiungszug profitieren durfte, und hier kam es in der Tat danach zu einem bedeutenden Aufschwung, an welchen noch wichtige Geschichtszeugen erinnern. Dies war unzweifelhaft den Hüttenherren Puricelli zu verdanken, die seit Ende des 18. Jahrhunderts einen unterhalb des Städtchens am Guldenbach errichteten Eisenhammer betrieben. Unklar ist, ob diese vormals bedeutendste Produktionsstätte im Soonwaldgebiet mit einer schon für 891 bezeugten Anlage identisch ist; mit Sicherheit kann jedoch festgehalten werden, dass 1598 der Betrieb im größeren Stil und dann unter den Puricellis äußerst erfolgreich geführt worden ist.

Die in der Rheinböllerhütte hergestellten Takenplatten, Gußöfen, Eisengitter und kunsthandwerklichen Arbeiten findet man nicht nur in den Hunsrücker Museen (z. B. Sammlungen im Schloss Reichenstein), sondern auch als wieder zu Ehren gekommene Antiquitäten in vielen Privathaushalten wie ebenso in manchem Gasthaus der Umgebung. Eine Besichtigung des heute zum Teil noch von mehreren Fertigungsbetrieben genutzten Werksgeländes mit seinen Verhüttungs-, Verwaltungs- und Wohngebäuden lässt das in seiner Art beispielhafte Ensemble eines Denkmals der Industriefrühgeschichte erkennen. Die Architektur wird vom einheimischen Soonwälder Bruchstein dominiert, dessen Mauerflächen überall an Türen und Fenstern durch Sandsteingewände wirkungsvoll aufgelockert werden. Rundbogige Blenden, Walmdächer, Mansarden sowie gelegentliche Baudekoration (z. B. mit gusseisernen Vasen auf einer Terrassenbrüstung) vereinen sich zu einem die Formen aus Barock und Klassizismus aufgreifenden Stilganzen.

Die nahebei 1857 errichtete Puricelli-Gruftkapelle (1906 nach Osten vergrößert; 1946/47 restauriert) gibt ein interessantes Exempel des neuromanischen Stils ab, wobei neugotisches Beiwerk und insbesondere auch ein Gitter aus Schmiedeeisen der Beachtung wert sind. In der Umgebung (bachabwärts) erinnert auch die Stromberger Neuhütte an die wirtschaftlich bedeutsame Geschichte am Oberlauf des Guldenbaches, während das einstige Jagdschloss Karlsburg noch davon zu erzählen scheint, dass man bei aller Anstrengung zum Gelderwerb die schönen Freizeitabwechslungen nicht zu kurz kommen liess.

Die Wohlhabenheit als Voraussetzung dafür, dass die Hüttenbesitzer im 19. Jahrhundert derart geschmackvolle und zugleich zweckdienliche Baulichkeiten aufführen liessen, kommt in der bemerkenswerten Anlage des 1862 durch Jenny Puricelli gestifteten Waisenhauses (heute Altersheim) vorzüglich zum Vorschein. Dessen Gebäudevielfalt, die von der oberhalb Rheinböllens vorüberführenden Autobahn wie ein komplett erhaltenes Klostergut aus dem Mittelalter wirkt, ahmt - so überraschend wie überzeugend - die architektonische Tradition weit früherer Spitalbauten nach. Eine lückenlose Ringmauer umzieht die Gärten, Wohn- und Wirtschaftsgebäude samt der neugotischen Kapelle.

Während die Profanhäuser, ganz dem zu ihrer Erbauungszeit vorherrschenden romantischen Zeitgeist entsprechend, aus allen möglichen Blickwinkeln stets eine quasimittelalterliche Vedute suggerieren sollten, besticht die 1887/88 erbaute kleine Kirche durch ihre qualitätsvolle Ausstattung. Diese dreischiffige Säulenhalle zu drei Jochen (Rippengewölbe über Rundpfeilern; Kreuzrippengewölbe im Chor) vermittelt ein ausgewogenes Raumgefühl, dem eine sehr dekorative Ausmalung gleichsam edle Akzente hinzugefügt hat. In der Verglasung, mit Altar, Kanzel, Gestühl und Orgel - insgesamt und auch in sämtlichen Details - ist die dem gotischen Stil verpflichtete Konzeption konsequent beherzigt worden. Während drunten am und über dem Rheinstrom Fürsten und Kaiser voll romantischer Gestimmtheit die an einstige ›Ritterlichkeit‹ gemahnenden Ruinen zu teils pompösen Prunkobjekten restaurieren und aufwerten liessen, hat hier eine Familie von Industriebaronen soziale Fürsorge mit Kunstsinn gepaart und darüber eine Anlage bzw. Einrichtung geschaffen, die den Maßstab der (Mit-) Menschlichkeit auch darin verrät, indem sie über den reinen Zweck hinaus das in Deutschland so oft (und falsch) beschworene »Schöne, Wahre und Gute« tatsächlich als sichtbares Beispiel zu einer Synthese gedeihen liess, von welcher man im Ernst behaupten möchte: ein Gesamtkunstwerk von seltenem Rang. Oder hat sich beiläufig befragt, der ›Clan der Puricellis‹ hier nur sein eigenes Denkmal setzen wollen? Gleichwie - und selbst wenn es so wäre: Das kunsthistorisch durchaus relevante Ergebnis ist im genauesten und besten Sinn beachtens- und betrachtenswürdig.