Text über das Dorf Herrstein von Uwe Anhäuser, Hunsrück und Naheland, DuMont-Kunst-Reiseführer, 1987



Durch Oberhosenbach und Breitenthal folgt die Straße nach Herrstein dem sanften Gelederelief neben dem Wiesental des Hosenbaches (fränkisch: ›Husonbach‹). Das nahe Wickenrodt gefällt mit ansehnlichen alten Bauernhöfen und infolge der jüngst durchgeführten Maßnahmen zur stilvollen Dorferneuerung. Einen selten schönen Anblick vor dem Hintergrund des östlich sich aufbuckelnden Lützelsoons bietet auch das Ensemble der romanischen Kirche mit dem Pfarrhaus und der Pfarrscheune. Nach Südosten erblickt man über dem Einschnitt des Hahnenbaches das kleine Sonnschied auf seiner geologischen Terrasse; Griebelschied mit seinem gotischen Wendelinuskirchlein, Bergen mit einem klassizistischen (1860) und Berschweiler mit neugotischem Gotteshau (1866) präsentieren jeweils inmitten eines Geheges rustikaler Wohn- und Wirtschaftsgebäude beachtenswerte Sakralarchitekturen. Diese Ortschaften am Rand des um seinen Unterlauf verkehrsfernen und rech urwüchsig anmutenden Hosenbachtales waren ein früher wichtige ›Vorratskammer‹ der Wild- und Rheingrafschaft. So auch das anmutig in die Talmulde gedrängte Niederhosenbach, von wo aus man, einen Wiesenhügel überquerend, nach drei Kilometern den alten Amtsort Herrstein erreicht.

Noch 1975 unterschied sich Herrstein kaum von den Nachbardörfern; unscheinbar und mausgrau verputzt oder mit Asbestzementplatten beschlagen waren die Hausfassaden. Lediglich der mächtige Uhrturm (15. Jh.) mit seinem spitzbogigen Tordurchlass, das 1737 über den Mauern einer Burgruine (13. Jh.) der Sponheimer erbaute barocke Amtshaus, dahinter die aus der einstigen Burgkapelle herausgewachsene spätgotische Schlosskirche zur Seite eines Eckturmes der alten Befestigung sowie der freilich hervorragend erhaltene ›Schinderhannesturm‹ (13. Jh.) deuteten auf eine historisch nicht eben belanglose Vergangenheit zurück. In der Schlosskirche sind etliche Wappengrabsteine (17. und 18. Jh.) vermauert, ein gotischer Taufstein steht am Chor, und an der Emporenbrüstung gewahrt man Ölbilder (16. Jh.) eines unbekannten provinziellen Meisters. Auch die Stumm-Orgel (1772) zeigt einen schön geschnitzten Prospekt, doch all diese Objekte - Türme, Amtshaus und Kircheninventar - haben eher am Rande damit zu tun, dass sich Herrstein in den Jahren nach 1980 mehr und mehr den Ruf erwarb, ein ›hunsrückisches Rothenburg‹ zu sein. Wie es dazu kam, ist zum einen dem tatkräftigen Bürgermeister Wolfgang Hey und zum zweiten der in den siebziger Jahren um sich greifenden Arbeitslosigkeit zu verdanken.

Letztlich geht alles aber auch darauf zurück, dass die Herrsteiner Einwohner 1674, als während der Pfälzischen Erbfolgekriege Marschall Turenne mit seinen Truppen in bedrohliche Nähe herangerückt war, eigenhändig ihre Stadtmauer niedergerissen haben. Nach diesem außergewöhnlichen Akt einer ›einseitigen Abrüstung‹ bot sich potentiellen Angreifern keine Wehranlage mehr dar, die Schätze hinter den Wällen hätte vermuten lassen, und so blieb der 1279 erstmals erwähnte und seit 1428 mit Stadtrechten versehene Ort glücklicherweise verschont. Weil es in den späteren Jahrhunderten immer unbedeutender wurde und der Anschluss ans Industriezeitalter irgendwie verschlafen wurde, brachte Herrstein es auch späterhin nicht mehr zu solchem Wohlstand, der etwa umfängliche Neubauten ermöglicht hätte, und bewahrte sich damit innerhalb der vormaligen Befestigungsmauer einen völlig intakten Kern an historischer Bausubstanz von Wohnhäusern (16.- 18. Jh.). Allerdings kam anfangs des 19. Jahrhunderts die merkwürdige Sitte auf, das alte Fachwerk zu verputzen; offenbar gedachten die Einwohner dadurch ihrem Ort einen gewissen ›städtischen Anstrich‹ in Erinnerung an die entschwundenen Zeiten der Stadtfreiheit zu verleihen. Für mehr als anderthalb Jahrhunderte blieb diese quasibiedermeierliche Idylle bestehen.

Federführend war es seit 1974 dann die heutige Verbandsgemeindeverwaltung, die sich unter Wolfgang Hey erfolgreich um sogenannte ›ABM-Programme‹ bewarb: Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung für erwerbslos gewordene Handwerker, die zunächst bei Restaurierungen im alten Burgbereich realisiert werden konnten. Nach anfänglicher Zurückhaltung konnten im Fortgang dieser Arbeiten auch einige private Hauseigentümer dazu gewonnen werden, die dicken Putzschichten an ihren Wohngebäuden abschlagen zu lassen. Bald zeigten sich die ersten Ergebnisse: Überall kamen unter dem Mörtel nach und nach die Fachwerkfassaden wieder ans Licht. Die Eindrücke wirkten überzeugend, und allmählich kam  eine Bewegung in Gang, die unterdessen bereits als ›Herrsteiner Modell‹ von anderen Kommunen aufgegriffen worden ist. So wurde, durch Zuschüsse unterschiedlicher Art unterstützt, binnen zehn Jahren, einschließlich flankierender Maßnahmen wie Neupflasterung der Ortsstraße und Installierung alter Kandelaber, der historische Ortskern vollständig restauriert.

Mehr als 50 Fachwerkhäuser sind nun freigelegt, mehrere Ruheplätze für Besucher geschaffen, Brunnen aufgestellt und ein Rundweg mit Hinweisschildern angelegt worden. Ein kleines heimatkundliches Museum dokumentiert die Vergangenheit des alten Herrstein, das ansonsten aber kaum museal, sondern ein lebendiger Ort ist.