Text von Uwe Anhäuser, Hunsrück und Naheland, DuMont-Kunst-Reiseführer, 1987



Die Bundesstraße 50 zwischen Simmern und Kirchberg zeigt bereits mit ihrem geraden Verlauf, dass sie auf dem Untergrund der alten Römerstraße ruht. In der Stadt Kirchberg selbst erinnert jedoch nichts mehr an ihren frühgeschichtlichen Ursprung, der allerdings anhand etlicher Ausgrabungsfunde (z. B. Münzen, Reste von Grabmälern) und eines 2,5 Meter tief unter der Michaelskirche entdeckten Steinpflasters faktisch beglaubigt wurde. Der sogenannte Römerbrunnen im Stadtteil Denzen, wenngleich mit weit jüngerer Einfassung umgeben, dürfte jedoch schon im einstigen ›Dumnissus‹ von den Legionären einer Militärstation genutzt worden sein.

Das 1259 zur Stadt erhobene Kirchberg wird aufgrund der Erwähnung durch Ausonius (371) als somit nachweislich älteste Siedlung auf dem Hunsrück angesehen. Jedenfalls erscheint die historische Kontinuität als Wohnort hier deutlicher als anderenorts: Der römische Ortsname übertrug sich auf ein fränkisches Königsgut, das 995 als ›praedium Domnissa‹ beglaubigt und erst nach Gründung einer Kirche unter den Karolingern zum 1129 erstmals erwähnten ›Chiriperg‹ wurde.

Analog dazu konnten durch Grabungen in der katholischen Michaelskirche über dem römerzeitlichen Niveau die Baureste von Gotteshäusern des 8., 10. und 11. Jahrhunderts festgestellt werden. Noch vom Anfang des 13. Jahrhunderts stammen fünf Geschosse des Turmes, der um 1500 aufgestockt und nach 1689 mit einem Schweifdach und darübergesetzter Laterne zur jetzigen Gestalt vollendet wurde. Die dreischiffige Hallenkirche zu vier Jochen (um 1490) mit ihrem einschiffigen Chor (zwei Joche mit 5/8-Schluss; ca. 1460) wirkt im Inneren eher schlicht; schlanke Rundpfeiler ohne Kapitelle stützten die Kreuzgewölbe. Während einer Restaurierung 1967-1969 fand man mehr als 70 Steinmetzzeichen. Die zur selben Zeit rekonstruierte Ausmalung bezog sich auf historische Vorbilder, darunter florale Ornamente aus spätgotischer Zeit, die noch in spärlichen Resten am Gewölbe des Langhauses angetroffen wurden.

Eine Sandsteinkanzel (um 1490) gefällt durch spätgotisches Blendmaßwerk ihre Brüstung. Auf dem Hochaltar erblickt man ein Gemälde des hl. Michael (um 1720). In der Kirche und auch an ihren Aussenmauern finden sich Epitaphien (15.-18. Jh.) für Angehörige der städtischen Oberschicht; herausragend ein Bildnisgrabstein (1491) und vor allem das qualitätsvolle Denkmal für Katharina Hoising (gest. 1577) aus Johann von Trarbachs Simmerner Werkstatt. Bis zum Jahr 1956 diente die Michaelskirche beiden Konfessionen. Seither wird evangelischer Gottesdienst in der modernen Friedenskirche (am Stadtausgang in Richtung Simmern) gehalten. Auf der Rasenfläche vor diesem neuzeitlichen Bauwerk steht neben einem alten Ziehbrunnen ein um 1780 errichteter zierlicher Pavillon aus der badischen Herrschaftsperiode. Unter einem weit vorspringenden Schieferdach wirkt das achteckige Gebäude mit seinen ovalen Fensterchen wie ein kapriziöses Schmuckkästlein aus jener ›Zopfzeit‹ im Übergang zwischen Rokoko und Klassizismus.

An die ehemals starke Stadtwehr Kirchbergs, deren Grundzüge lediglich mittels Verfolgung von Baufluchten stellenweise noch erkenntlich sind, erinnert kein architektonischer Rest. Aber im Zentrum um den Marktplatz findet man neben mehreren prächtigen Fachwerkhäusern noch zahlreiche Profanbauten aus dem 17./18. Jahrhundert, darunter auch am ehemaligen Burghaus der Herren von Eich (Hauptstraße 71-75) interessante Details in Gestalt eines Wappens und einer Wendeltreppe von 1578. Das katholische Pfarr- und Gemeindehaus (1765) stellt das bauliche Relikt eines längst aufgelösten Piaristenklosters dar; über seinem Portal erblickt man das markgräfliche Wappen von Baden (Kopie). Das frühere badische Gendarmerie-Gebäude lieferte barocke Bauteile für einen Neubau von 1978 (Hauptstraße 19, am Marktplatz). Dieses fallen allerdings weniger auf als die in einer Nische desselben Hauses aufgestellte Nepomuk-Statue, die höchstwahrscheinlich vormals auf einer Brücke über dem Graben der alten Stadtwehr stand. Dem Brückenheiligen, dessen legendären Sturz in die Moldau übrigens auch das Ölbild eines Seitenaltars in der Michaelskirche zum Motiv hat, wurde sein ursprünglicher Standplatz sicher durch die Zerstörungen von 1689 entzogen. Die letzten Wasserflächen des Stadtgraben sind dagegen erst Mitte dieses Jahrhunderts verschwunden.


Unter dem Teufelsfels

Kirchberg, im einheimischen Dialekt als ›Kerbrich‹ und im weiteren Umkreis so einfach wie zutreffend als ›Stadt auf dem Berge‹ bekannt, ist wirklich ein nahezu von allen nur einigermaßen hochgelegenen Aussichtsstellen des Hunsrücks auf über Dutzende von Kilometern anzupeilender zentraler Knotenpunkt. Es bedarf nicht einmal besonderer Phantasie, sich vorzustellen, wie bedeutend diese heute nur noch durch die Michaelskirche und einen Wasserturm bestimmte Kulisse gewirkt haben muss, als sich noch die in Ansichten Merians und Meisners überlieferten Umrisse der mittelalterlichen Stadtbefestigung zeigten. Damals wie heute ist zweifellos die innerörtliche Straßenkreuzung wichtig: Aus vier Richtungen kommen hier mit der Bundesstraße 50 und der sie überquerenden Verbindung zwischen Mosel und Nahe (B 421) Verkehrswege von mehr als bloß regionaler Orientierung zusammen. Von dieser Vorzugslage hat Kirchberg seit je profitiert.

Die gegen Süden aus der Stadt weisende Strecke nach Kirn führt zunächst über die wellige Hochfläche bis Dickenschied. Zwei Kirchen krönen den Umriss dieses landschaftlich schön gelegenen Ortes. Den vierzehn Nothelfern ist der Bau für die katholische Gemeinde geweiht; 1842-1844 errichtet, ahmt er romanische Formen nach. Bemerkenswert sind eine spätgotische Pietà sowie die Ausstattung (18. Jh.), darunter zwei Heiligenfiguren. Die evangelische Pfarrkirche ist jüngeren Datums: Baumeister Hans Best aus Bad Kreuznach gestaltete 1914-1916 diesen Saalbau in barockisierenden Formen, die aber auch deutlich vom Jugendstil beeinflusst erscheinen (z. B. Ornamente an hölzernen Pfosten der Orgeltribüne).

Dickenschieds evangelisches Gotteshaus war seit 1934 Wirkungsstätte des Pfarrers Paul Schneider (1897-1939), der als ›Prediger von Buchenwald‹ zum Blutzeugen des christlichen Glaubens während der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft geworden ist. Er liegt auf dem Gemeindefriedhof vor dem Ortseingang aus Richtung Kirchberg bestattet. Die evangelische Kirche im Rheinland ehrt den im KZ umgebrachten Märtyrer als Vorbild für kompromisslose Standhaftigkeit im Glauben.

Auch in anderer Hinsicht hat der Landschaftswinkel um Dickenschied, zwischen Kirchberg und dem Lützelsoon, zeitgeschichtliche Geltung erlangt. Fährt man nämlich durch das winzige Fachwerkdörfchen Rohrbach südwärts weiter, kommt man nach wenigen Minuten zu einer Straßenkreuzung im freien Feld, die rechterhand nach Woppenroth abzweigt, das als ›Schabbach‹ in der unterdessen weltweit bekannten Fernsehserie ›Heimat‹ hauptsächlicher Drehort war. Das filmische Epos schildert am Beispiel einer fiktiven Familie namens Simon den historischen Wandel in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, wobei Regisseur Edgar Reitz und sein Drehbuchautor Peter Steinbach mit der so eindrucksstarken Chronik deutsche Geschichte aus der sozialkritischen akzentuierten Perspektive ›von unten‹, also aus der Sicht sogenannter einfacher Leute, zugleich auch viel Atmosphärisches und Charakteristisches aus dieser Hunsrückregion auf den Bildschirm brachten.

Und dann sind's von Woppenroth nicht einmal fünf Autominuten bis Schneppenbach, wo jene reale Hunsrückfigur, Johann Bückler alias ›Schinderhannes‹, bei seiner ›Butzliese‹ und ›Ami‹ sowohl einen erotischen Stützpunkt als auch geheimen Bandensammelplatz unterhielt. Drunten im verschwiegenen Tal hat er auf der Schmidtburgruine des weiteren seinen heimlichen Einstand gehalten, wenn ihm die Kirner oder die Mainzer Gendarmen mal wieder zu dicht auf den Fersen waren.

Wer einen mehrstündigen Spaziergang durch eine gänzlich unverbaute Landschaft voller Idyllen unternehmen möchte, findet zwischen Schneppenbach und Woppenroth im oder über dem Talgrund des Hahnenbaches auf grandiose Weise bestätigt, dass sich seit jenen Zeiten wenigstens hier so gut wie gar nichts verändert hat. Entweder von der Schmidtburg talaufwärts gehend oder von der Straße Woppenroth - Rhaunen (hinter einem Schieferfels links in einer Rechtskurve) aus kommt man irgendwann zu einem schlichten Holzschild, das zur ›Hellkirch'‹ weist. Die genaue Wegstrecke entlang der mäandernden Bachschlinge und über gewundene Waldwege ist schwer zu beschreiben (Wanderkarte sehr zu empfehlen); bei beharrlicher Suche wird man aber gewiss über kurz oder lang auf ihrer dicht bewaldeten Kuppe die einsame Ruine finden.

Hellkirch', dies bedeutet die ›Kirche auf der Halde‹. Eng von Buchen und Birken umschlossen, erblickt man ihre klobigen Mauern; drei Seitenwände stehen noch und umschließen ein Geviert von etwa dreieinhalb mal fünf Meter Innenfläche. Ein massiger Schutthügel inmitten mag unter den Trümmern des eingestürzten Daches noch unausgegrabene Relikte bewahren. Dieser kleine Bau zeigt harmonische Proportionen, ist ganz aus Schieferbruchstein aufgeführt und ordnet sich zur Stirnwand hin mit einer gotischen Fensteröffnung, die in ihrem Ebenmaß überraschende Wirkung entfaltet - von allen Seiten schaut Grün herein. Kein Sims, kein Zierat, keine kostbaren Details - hingegen die Schönheit durch pure Form.

Hoch über diesem Tal, weithin sichtbar zwischen Rheinböllen, Simmern, Kirchberg und Idar-Oberstein, steigt der urwüchsige Buckel des Lützelsoons über der Hunsrücker Landschaft empor. Ein dunkler Waldsaum umrandet sein langgestrecktes Riff aus grauweißen Quarzitklippen. Wanderwege führen unter den Felsen entlang, und schmale Pfade zweigen ab zu den wichtigen Rosseln und Brocken, zwischen denen hier und da noch Reste von Trockenmauern vorhanden sind, die zu unbestimmbarer Zeit und von unbekannter Hand aufgeschichtet worden sind. Da raunt man noch heute vom magischen ›Wählenstein‹ (Waldbeerenstein), spinnt die kuriosen Märchen vom Wilden Jäger, von Wald- oder Wildfrauen und auch jene von magisch glühenden Geldfeuerchen nach. Im gesamten Hunsrück kennt man des weiteren die mit dem Teufelsfels (568 m) verknüpfte Legende der Versuchung Jesu durch den Teufel. Dieser annähernd pyramidenförmige Quarzitklotz ragt in freier Lage über den Baumwipfeln empor. 1984 wurde gleich nebenan ein Aussichtsturm errichtet: Das Panorama ist grandios - 42 Orte im Blickfeld -, kein Wunder also, dass einst irgendein Missionar oder gewitzter Dorfgeistlicher den biederen Hunsrückern die Mär suggerierte, dass etwas so Schönes eigentlich doch nur ein rechtes Teufelswerk sein könnte.